Peter Weilharter, HTBLuVA Mödling

Aus Ordnung wird Chaos - Feigenbaumdiagramm

Mathematische Inhalte:

Anwendung:

Beschreibung von Naturvorgängen mit Hilfe mathematischer Modelle.

Kurzzusammenfassung:

Das Wachstum von Populationen weckte stets das Interesse von Biologen, Ökologen, Epidemiologen - und auch von Mathematikern. Hinter den täuschend einfachen Formeln des Populationswachstums lauert nämlich ein vielfältiges und abwechslungsreiches Verhalten, das von der einfachsten Ordnung bis zum Chaos reicht.

Lehrplanbezug:

2. Jahrgang

Zeitaufwand:

4 Stunden

Mediales Umfeld:

Hardware: PC ab 386er

Software: Excel ab Version 4.0

Datei zum herunterladen: FEIGENB.ZIP

 

1. Inhalte des Beitrages

 Mit Hilfe der Verhulst-Gleichung pn+1 = k× pn× (1 - pn) sollen verschiedene Wachstumsprozeße untersucht werden, indem die Anwachsrate k verändert wird.

 
2. Einführung

 Die Geschichte bietet eine Fülle von Beispielen für Populationen, die Nichtlinear bzw. Außer Kontrolle gerieten: die Freisetzung einer kleinen Kaninchenschar in Australien, deren Nachkommen dann explosionsartig, den ganzen Kontinent erfüllten; die Eroberung der nordöstlichen Vereinigten Staaten durch die Raupe des Großen Schwammspinners, die aus einem Bostoner Laboratorium entwichen war; die fortschreitende Flut der Killerbienen; die Grippewellen, die jahrelang zu schlafen scheinen und dann plötzlich seuchenartig die ganze Welt umwandern, um schließlich wieder bis zum Beginn des nächsten Zyklus abzusterben. Einige Populationen vervielfachen sich schnell, anderer benehmen sich - wie wir gleich sehen werden - nach den Regeln seltsamer Attraktoren,(Anziehungspunkte), also chaotisch.

Das Wachstum von Kaninchenpopulationen wäre ein zu komplexer Ausgangspunkt, um den Ausbruch des Chaos zu verstehen. Das liegt daran, daß einige Kaninchen schon Junge kriegen, während andere noch heranreifen oder gerade schwanger sind. Eine Gleichung, die die Kaninchenpopulation beschreiben soll, müßte all diese Faktoren berücksichtigen.

Ein viel einfacheres System, aus dessen Untersuchungen man jedoch ebensoviel lernen kann, ist die Population eines Parasiten, der im Sommer lebt und nach der Ablage seiner Eier stirbt, wenn es kühl wird. Der Große Schwammspinner ist ein gutes Beispiel. Fangen wir mit einer kleinen Kolonie an.

Nehmen wir an, daß Jedes Jahr etwa der gleiche Prozentsatz von Eiern schlüpft und überlebt. Dann hängt dieses Jahr die Größe der Larvenkolonie davon ab, wieviele Larven sich im letzten Jahr verpuppten, in Falter verwandelten und dann Eier legten. Nehmen wir an, die Größe unserer Kolonie beträgt 100 Falter und die Kolonie verdoppelt sich jedes Jahr. Wenn im zweiten Jahr die Größe 200 beträgt, so wird sie im folgenden Jahr 400 sein.

Im dritten Jahr verdoppelt sich die Kolonie wiederum.

Es ist also ganz einfach, eine allgemeine Formel anzugeben, die es erlaubt, die Population eines Jahres aus der des vorangegangenen Jahres zu berechnen.

Natürlich verdoppeln sich nicht alle Populationen. Manche mögen schneller oder langsamer anwachsen. Wenn wir die Geburtenrate k nennen, dann ist jede Kolonie in diesem Jahr k-mal größer als im vorigen Jahr. In unserem Beispiel des Großen Schwammspinners nahmen wir k = 2 an, also die jährliche Verdoppelung der Population. Lassen wir nun auch andere Werte von k zu, so ergeben sich verschiedene Möglichkeiten von Wachstum.

Diese Gleichung des exponentiellen Wachstums gibt recht gut das Verhalten kleiner Populationen wieder, wenn es genügend Nahrung gibt und wenn sie genügend freien Raum vorfinden , in dem sie expandieren können. Aber die Formel hat offensichtlich ihre Grenzen. Wenden wir sie beispielsweise auf die Kaninchen an, die sich in jeder Generation verdoppelt, dann sagt die Gleichung voraus, daß jenes ursprüngliche australische Pärchen sich nach nur 120 Generationen auf das ganze Universum ausgebreitet hätte! In der wirklichen Welt kann exponentielles Wachstum nicht ungebremst fortschreiten, weil jedes Populationsystem von anderen Systemen in der Nahrungskette abhängig ist. Alle diese Systeme sind miteinander verknüpft, so daß schließlich die Populationsgröße von der ganzen Umwelt abhängt.

 
3. Die Verhulst - Gleichung

Im Jahre 1845 führte P. F. VERHULST, ein Wissenschaftler, der sich für die Mathematik des Populationswachstums interessierte, ein neues Glied in die Gleichung ein, um zu beschreiben, wie sich eine Population in einem abgeschlossenen Gebiet entwickelt. Die Einführung diese Gliedes, das die Gleichung nichtlinear macht, war ein einfacher, aber raffinierter Trick, um den Einfluß aller anderen Umweltfaktoren auf das Populationswachstum zu berechnen.

Bevor wir aber diesen genialen Term in die Gleichung einführen, müssen wir uns von der Mathematik helfen lassen, etwas praktischer mit den Zahlen umzugehen. Bis jetzt haben wir für die Größe pn (die Population des letzten Jahres) keine obere Grenze angenommen. Um aber verschiedene Populationen miteinander zu vergleichen und um ein einheitliches Rechenverfahren zu erhalten, wird die Größe pn normiert. Im wesentlichen wird die Populationsgröße durch eine Zahl dargestellt, die zwischen 0 und 1 variieren kann. pn = 1 stellt die größtmögliche Population dar, also 100%. pn = 0,5 bedeutet den halben Wert, 50%. Es kommt nicht darauf an, ob wir über eine Population von einigen hundert Faltern sprechen oder über zehntausende Bakterien. Wir sind nur daran interessiert, die Population des letzten Jahres mit der dieses Jahres zu vergleichen; d. h. wir betrachten nur die relativen Zahlen, also die Verhältnisse von Populationen.

Diese Normierung, die pn,pn+1,pn-1 usw. nur zwischen 0 und 1 variieren läßt, führt dazu, daß die Mathematik sich im wesentlichen vereinfacht.

Und nun zurück zu Verhulsts Gleichung. In der einfachen Wachstumsgleichung
 

pn+1 = k × pn

fügt er auf der rechten Seite ein zusätzliches Glied hinzu, nämlich den Faktor (1 - pn).

Nun stehen auf der rechten Seite zwei miteinander konkurrierende Glieder, pn und (1 - pn). Wenn pn größer wird, so wird (1 - pn) kleiner. Für einen sehr kleinen Wert pn liegt (1 - pn) ganz nahe bei 1, so daß die Verhulst-Gleichung genauso aussieht wie die ursprüngliche Wachstumsgleichung. Was aber geschieht, wenn pn groß wird, wenn es nahe 1 kommt? Nun geht das Glied (1 - pn) gegen 0 und sorgt dafür, daß die rechte Seite der Gleichung verschwindet - die Geburtenrate fällt. Mit anderen Worten, die zwei Glieder arbeiten hier gegeneinander; das eine versucht, die Population zu erweitern, das anderer, sie zu unterdrücken.

Schauen wir das noch ein bißchen anders an. Ohne das von Verhulst eingeführte Glied würde die Gleichung einen Vorgang beschreiben, in dem die Population jedes Jahres der des vorhergehenden Jahres proportional ist: die Beziehung ist streng linear. Wenn man pn mit dem neuen Glied (1 - pn) multipliziert, so kann man dies auch schreiben:

pn - pn× pn.

Mit anderen Worten, pn wird mit sich selbst multipliziert. Wenn man ein Glied mit sich selbst multipliziert, so erzeugt das Rückkopplung oder "Iteration" und Nichtlinearität (siehe auch Mandelbrotmenge AMMU 9 / Beitrag 5). Das Wachstum von Jahr zu Jahr hängt nun nichtlinear davon ab, was vorher war. Die modifizierte Gleichung von Verhulst findet eine Unmenge von Anwendungen. Insektenforscher bedienen sich ihrer, um die Auswirkungen von Schädlingen in Obstgärten zu berechnen, und Genetiker beschreiben damit die Häufigkeitsschwankungen bestimmter Gene in einer Population. Man hat die Gleichung auch angewandt, um zu beschreiben, wie sich ein Gerücht ausbreitet: Anfangs wird die Verbreitung des Gerüchts exponentiell zunehmen, bis fast jeder es gehört hat. Dann wird die Anwachsrate geringer werden, weil mehr und mehr Leute sagen: "Das habe ich schon gehört." Verhulstens Gleichung läßt sich auch auf die Lerntheorie anwenden. Wieviel heute gelernt wird, hängt ja mit der früher gelernten Informationsmenge zusammen. Zunächst wächst das Wissen an, aber nach einiger Zeit wird der Lernende gesättigt, und größere Anstrengungen bringen jetzt nur noch minimale Ergebnisse.

Die breite Anwendung der nichtlinearen Version der Populationsgleichung wird überraschende Weiterungen nach sich ziehen:

Wo immer diese Gleichung anwendbar ist, da lauert die Möglichkeit des Chaos.
 

4. Nichtlineares Wachstum

 Die Verhulst-Gleichung ist entstanden um das Wachstum zu untersuchen, einen interessanten und weitverbreiteten Vorgang. Dies wird an Hand eines Beispiels erläutert, wobei aber gleich darauf hingewiesen wird, daß nicht alles in diesem Modell realistisch beschrieben werden kann:

In einer Schule ist eine Grippewelle ausgebrochen. Wenn z.B. 30% der Schüler schon erkrankt sind können wir diese Tatsache durch die Formel p = 0.3 ausdrücken. Es stellt sich die Frage, wieviele Schüler am nächsten Tag krank sein werden. (Gesund werden gibt es in unserem einfachen Modell leider nicht.) Die Regel, nach der sich der Ansteckungsfaktor abspielt, wird mit f (p) bezeichnet. Eine richtige Beschreibung der Ansteckung wird durch folgende Regel beschrieben:

f (p) = p + z

Das heißt zu dem vorhandenen "p" kommt ein Zuwachs " z" hinzu. Der Wert von z ist durch die Verhulst-Gleichung gegeben. Es gilt:

Bei unserer Untersuchung wenden wir diese Formel für mehrere aufeinanderfolgende Tage an. Um die Zahlenwerte für die einzelnen Tage auseinander zuhalten, versehen wir p mit einem Index. Der Ausgangswert ist p0 , nach einem Tag haben wir p1 , und so weiter. Das Ergebnis f (p) wird für die nächste Runde zum Ausgangswert p, so daß man folgendes Schema bekommt:

f(p0) = p0 + k × p0 × (1 - p0) = p1

f(p1) = p1 + k × p1 × (1 - p1) = p2

f(p2) = p2 + k × p2 × (1 - p2) = p3

f(p3) = p3 + k × p3 × (1 - p3) = p4

und so weiter.

 Allgemein gilt also:             f(pn) = pn + k × pn × (1 - pn) = pn+1

Übersetzt heißt das nichts anderes, als daß die neuen Werte gemäß der angegebenen Gleichung aus den alten Werten berechnet werden. Für jeweils einen festen k-Wert können wir ausgehend von einem Startwert p0, den Verlauf der Krankheit berechnen. Mit Hilfe von EXCEL stellen wir fest, daß sich diese Funktionswerte mehr oder weniger schnell der Grenze 1 nähern, d.h. alle Schüler werden krank. Das geht natürlich um so schneller, je größer der Faktor k ist.

Um einen schnellen Überblick über die Ergebnisse zu bekommen, lassen wir uns die Entwicklung für verschiedene Werte von k graphisch darstellen.

 Bei k-Werten größer als 1 tritt ein seltsames, unerwartetes Verhalten auf: p wird nach wenigen Schritten größer als 1! Mathematisch ist das eindeutig. Mit der Formel läßt sich an jeder einzelnen Stelle zeigen, daß richtig gerechnet wurde. Leider zeigen sich hier die Grenzen unseres Grippebeispieles, denn mehr als 100% der Schüler können ja wohl nicht krank werden. Das Bild zeigt jedoch ganz andere Ergebnisse. Könnte hier etwas anders als normal sein?

Wir befinden uns hier in einer typischen experimentellen Situation: Das Experiment hat unsere Vorhersagen in etwa bestätigt, geht aber in seinen Aussagen über den von uns vorgesehenen Bereich hinaus. Es eröffnet neue Fragestellungen und gewinnt Eigendynamik. Auch wenn wir uns unter " mehr als 100% der Schüler" haben Grippe nichts vorstellen können, beginnt die folgende Frage interessant zu werden: Wie verhält sich eigentlich p, wenn k größer wird als 1 Wählen wir den Ansteckungsfaktor k = 1,5, so liefert die Gleichung ein gewisses Schwingungsverhalten weil die beiden konkurrierenden Wachstumsglieder einander widerstreben, aber anschließend wird doch der Wert p = 1 erreicht.

 

Schieben wir nun den Wert von k bis auf 1,95. Was geschieht dann?
 

Die Schwingung hält länger an, aber auch hier werden schließlich 100% erreicht.

Wenn jedoch der Ansteckungsfaktor den kritischen Wert von 2,0 erreicht, so geschieht etwas Neues.

 

Die Werte für p werden instabil und spalten sich in zwei. Nun nähert sich die Anzahl der erkrankten Schüler nicht mehr dem einen Wert p = 1, sondern sie schwanken zwischen zwei stabilen Werten hin und her. Das Verhalten des Systems ist komplexer geworden. Kurbeln wir die Werte für k über 2,45 an, so werden die beiden festen Zahlen wiederum instabil, spalten sich auf und erzeugen Endwerte, die zwischen 4 verschieden Werten schwanken. Jetzt ist in jeweils 4 aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten der Wert von p radikal verschieden.
 

Erreicht der Wert k 2,56, so werden auch diese Schwankungen instabil und es treten 8 Fixpunkte ein.

Bei 2,57 verzweigen sie sich weiter in nun 16 verschiedene Werte. Dieses Phänomen bezeichnet man als "Periodenverdoppelung"

 

Bei k > 2,57 zeigt sich ein Verhalten, das sich nur noch mit einem Begriff beschreiben läßt: Chaos.

 

Bis zu dem k-Wert = 2 war unsere Mathematische Welt noch in Ordnung. Obwohl wir mit derselben Formel arbeiten, sind für höhere k kaum noch Voraussagen möglich. Die Sache wird rasch sehr verworren. Für unsere Verhulst-Gleichung trennt der Wert k = 2,57 "Ordnung und Chaos" voneinander. Ab k = 2,57 ist keinerlei Ordnung oder Harmonie zu erkennen. Aber dieses Chaos ist für sich wieder interessant, es hat nämlich Struktur !

Betrachten wir die Umgebung des k-Wertes 2,85.

Da gibt es Bereiche, in denen die Punkte dicht an dicht liegen. Gleich daneben sind fast keine Punkte zu sehen. Bei genauerer Betrachtung entdecken wir eine Struktur, in denen sich wieder Verzweigungen abspielen.

 5. Das Feigenbaumdiagramm

Die Wissenschaftler haben erkannt, daß der Periodenverdoppelungsweg zum Chaos eine Menge von früher unvorstellbaren Ordnungen enthält. Einige werden in folgender Abbildung sichtbar.
 

Mit Hilfe von EXCEL werden die Populationen für verschiedene k-Werte nach Verhulstens nichtlinearer Gleichung berechnet.

Ein detaillierter Blick auf das Feigenbaumdiagramm, veranschaulicht, wieviel Struktur im Chaos verborgen liegt.
 

Im Bereich von k = 2,5 bis 2,7 schwankt das System zwischen zunächst vier und dann zwei breiten anziehenden Bereichen hin und her.

Im Bereich von k = 2,85 sind helle senkrechte Bereiche erkennbar, die der Physiker gerne "Fenster" nennt. Hier, mitten in all diesem sich ausbreitenden Chaos, wird die Population plötzlich wieder vorhersagbar, das System ist stabil.

Wenn aber die k-Werte noch ein wenig höher gestupst werden, so reißt das Fenster auf und das Chaos flutet wieder herein. Solche Bereiche von Stabilität und Vorhersagbarkeit mitten in den zufälligen Schwankungen nennt man "Intermittenz".
 
6. Literaturnachweis

Im folgenden sind die Quellen aufgeführt, die ich für diesen Artikel benutzt habe.
 

Carl Hanser Verlag München Wien 1990
 

- Becker, Karl-Heinz und Michael Dörfler,

Computergrafische Experimente mit Pascal - Chaos und Ordnung in Dynamischen Systemen,

Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsges.mbH, Braunschweig 1986